Minimalismus für Anfänger
Seit dem Hype um die japanische Aufräum-Königin Marie Kondo steht Minimalismus vor allem für ordentlich aufgeräumte Wohnungen. Doch es häufen sich Stimmen wie die von Buchautor Christof Herrmann, dass eine minimalistischere Lebensweise weit größeres Potenzial birgt: nämlich nachhaltiger, freier und glücklicher zu leben. Unsere Redakteurin nimmt Sie mit auf eine erkenntnisreiche Reise von äußerem Chaos zu mehr innerer Zufriedenheit.
Kennen Sie diese schicken minimalistischen Instagram-Wohnungen, wo von der Vase bis zum Kuscheltier alles farblich und designtechnisch abgestimmt scheint? Ich bin ehrlich, ich schaue mir solche Bilder total gern an – auch wenn ich nie so wohnen werde. Für meinen Geschmack haben wir oft zu viel Unordnung durch herumliegendes Zeug, das keinen geeigneten festen Platz hat. Bei uns stapeln sich keine Pappschachteln oder ungeöffneten Briefe, wohl aber zusammengeschusterte Möbelstücke, Unterlagen, die ich einsortieren, und Kleinkram, den ich wegräumen will. Dazwischen ein Potpourri an Spielzeug, Reparaturbedürftigem, Deko, Werkzeug oder Kleidung. Kurz: Wenn mal wieder Schrottwichteln angesagt ist, kann ich problemlos in zehn Minuten zwei Kisten füllen. Es sei denn, ich habe zuvor mal wieder ausgemistet. Denn seit ein paar Jahren packt mich in regelmäßigen Abständen die Lust auf Ausmisten, Aufräumen, Sortieren und Wegwerfen. Immer dann, wenn ich mich im Inneren besonders unaufgeräumt, rast- und ratlos fühle, schweift mein Blick zu all den Regalen, Klamotten und Kisten. Nach dem Motto: Wenn ich das Chaos in meinem Kopf lichten will, muss ich es erst in meiner Umgebung beseitigen. Mit jedem Gegenstand, den ich aus dem Regal verbanne, mit jedem Kleidungsstück, das meinen Schrank weniger verstopft, fühle ich mich erleichtert und beschwingt. Es ist einfach ungeheuer befreiend, überflüssigen Ballast loszulassen und Raum zu schaffen, der für sich wirken kann. Und das funktioniert erstaunlicherweise immer wieder. Denn ist das Äußere sortiert und mein Umfeld von Chaos befreit, kommt auch mein Inneres besser zur Ruhe und ich kann mich besser auf das konzentrieren, was ich gerade brauche und will.
Durch meine Ausmistaktionen habe ich gelernt: Je weniger chaotisch es im Außen ist, desto geordneter fühle ich mich im Inneren. Diesen positiven Effekt propagiert auch die Japanerin Marie Kondo, die mit ihrer Konmari-Methode berühmt geworden ist. Für viele gilt sie als die Königin des Wohn-Minimalismus. Weniger Besitz, mehr Struktur und eine gute Portion Disziplin sind ihre Schlüssel für dauerhafte Ordnung und Zufriedenheit. Erst ausmisten, dann Plätze festlegen und die Teile nach Benutzung konsequent dorthin zurückräumen. Die Logik liegt auf der Hand: Je weniger Besitz, desto weniger Unordnung. Dabei geht es gar nicht darum, möglichst wenig von allem zu besitzen, sondern das zu behalten, was einem wichtig ist und gebraucht wird, und das loszulassen, was wir nicht wirklich brauchen oder sogar als Ballast empfunden wird. Marie Kondo empfiehlt für diesen Prozess, sich bei jedem Gegenstand, der den Hausstand verlassen muss, zu bedanken. Wertschätzung und Freude stehen bei ihrer Interpretation eines minimalistischen Lebens also hoch im Kurs.
Andere gehen sogar noch ein paar Schritte weiter, so wie Minimalismus-Experte Christof Herrmann. Wer Spaß an seiner Büchersammlung habe, solle sie gern behalten, meint der Autor. Als er vor einigen Jahren aus dem Job ausstieg, der ihn nicht erfüllte, auf Weltreise ging und seinen Minimalismus-Blog startete, begann für ihn ein neues Lebensgefühl. Entscheidend für sein Wohlbefinden sind nicht nur weniger Besitz, sondern vor allem weniger Ballast, mehr Lebensqualität und mehr Nachhaltigkeit. Christof Herrmann plädiert dafür, sich öfter mal einen Tag freizunehmen und nicht zu viele Pläne und Verpflichtungen einzugehen. Denn er sagt, nichts sei wertvoller als unsere Lebenszeit. „Ich habe mir angewöhnt, ein paar Fragen zu beantworten, bevor ich etwas kaufe, etwas zusage, mich verabrede oder ein negativer Gedanke meinen Kopf belagert. Brauche und gebrauche ich diese Sache wirklich? Kann ich diese Aufgabe noch freudvoll auf mich nehmen? Wie kann ich das Problem hinter dem negativen Gedanken lösen? Natürlich gehe ich manchmal eine Verpflichtung ein, um jemandem einen Gefallen oder eine Freude zu tun. Aber ich habe den Ballast in meinem Leben durch diese Fragen sehr reduziert.“
Während ich Minimalismus bisher eher als Möglichkeit gesehen habe, mehr Ordnung in meinem Zuhause und meinem Kopf zu schaffen, erkennen Christof Herrmann und viele andere schon das große Ganze. Nachhaltigkeit rückt immer mehr in den Fokus der Gesellschaft und auch dafür bietet ein minimalistischer Lebensstil Lösungen. Eigentlich klar: Wer weniger konsumiert, schont Ressourcen und verursacht weniger Müll. Wer weniger klimaschädlich unterwegs ist – per Bahn, zu Fuß, mit dem Rad, per Carsharing –, schont die Umwelt. Wenn ich genau überlege, ist auch die Corona- Krise für uns alle ein Lehrstück in Sachen Minimalismus. Es blieb uns gar nichts anderes übrig, als zu lernen, unser Leben, unsere Ansprüche und unsere Gewohnheiten runterzufahren. Auch wenn es für die meisten alles andere als einfach war: Ich bin überzeugt davon, dass sehr viele von uns ein neues Bewusstsein dafür entwickelt haben, was für sie wirklich zählt. Und, wer hätte es gedacht: Es sind die Momente, nicht die Dinge. Was mich wirklich glücklich macht, hat keinen Platz im Regal. Es ist wertvolle Zeit statt wertlosem Zeug. Sein statt Haben. Erlebnisse und Erinnerungen, von denen wir zehren können. Schrittweise die eigenen Träume zu verfolgen, statt immer nach Ausreden zu suchen.
Minimalismus ist also weitaus vielfältiger als gedacht: Es ist eine Entscheidung für ein simpleres und nachhaltigeres Leben in den unterschiedlichsten Bereichen. Einiges mag umständlich oder unbequem sein, aber es verfolgt ein höheres Ziel. Es geht um einen bewussten Lebensstil. Anzuhalten, wenn alles zu schnell geht, und innezuhalten, wenn das Chaos ausbricht. Entscheidungen abzuwägen, statt nur Impulsen nachzugeben. Minimalismus ist mehr als ein aufgeräumter Kleiderschrank. Es sind die vielen kleinen Dinge, für die wir uns täglich entscheiden. Es ist Einfachheit, aber auch Luxus. Aus freien Stücken auf etwas zu verzichten, zeugt von einer privilegierten Situation. Denn gerade in der westlichen Welt sind wir Freiheit, Sicherheit, Selbstbestimmung und Wohlstand gewohnt, auch wenn wir all das oft nicht mehr wahrnehmen. Welche Auswirkungen hat unser Handeln – sozial, regional, global? Was können wir langfristig ändern und jetzt schon anders machen? Es ist wie so oft eine Frage der Perspektive: Sehe ich nur den Verzicht oder erkenne ich auch den Gewinn für mich und viele andere? Denn wenn wir genau hinschauen, können wir im Minimalismus einiges Potenzial entdecken: für mehr Wertschätzung, mehr Bewusstheit und viele kleine Schritte in die richtige Richtung.
2. Vor einer Anschaffung ausrechnen, wie viele Stunden man dafür arbeiten muss
3. Pflegen, was Freude bereitet: egal ob Hobbys, Freundschaften oder Gegenstände
4. Herausfinden, was einen belastet, und lernen, es loszulassen
5. Weniger Auto fahren
6. Eine wohltuende Gewohnheit etablieren – zum Beispiel täglich 30 Minuten einem inspirierenden Hörbuch lauschen
7. Beim Einkaufen öfter auf regionale und ökologische Produkte setzen
8. Regelmäßig ein paar Dinge ausmisten, die über ein Jahr nicht benutzt wurden (außer Saisonales, das wieder zum Einsatz kommt)
9. Öfter mal Zeit und Erlebnisse statt Zeug verschenken
10. Lebensmittel übersichtlich ordnen und weniger wegwerfen
Einkäufe besser planen, weniger Lebensmittel wegwerfen:
Blog, Podcast und viele Tipps:
Minimalismus und Nachhaltigkeit für Familien:
Ein einfaches Leben mit weniger Ballast führt zu mehr Zeit, mehr Nachhaltigkeit, mehr Platz, mehr Geld, mehr Klarheit, mehr Freiheit, mehr Möglichkeiten und mehr Zufriedenheit. Nach meiner Erfahrung macht die minimalistische Lebensweise Zeit und Energie frei für das, was einem wichtig ist, etwa die Leidenschaften, Familie und Freunde.
Es ist keine klassische Einführung in das Thema Minimalismus, sondern ein Potpourri an Wegen und Tipps, wie man das Leben einfacher und zufriedener gestalten kann. Ich beschränke mich nicht auf das materielle Ausmisten, auch im Terminkalender oder im Kopf kann man sich von Ballast lösen.
Ich halte nicht viel von solchen Limits, auch wenn im Fernsehen oder in der Presse gern solche 100-Dinge-Asketen präsentiert werden. Für mich geht es bei der minimalistischen Lebensweise nicht darum, möglichst wenig zu besitzen. Es geht darum, sich vom Ballast zu trennen und nur Dinge zu besitzen, die man (ge)braucht oder die das Leben verschönern. Diese Erkenntnis nimmt den Druck heraus und motiviert, an den richtigen Stellen auszumisten.
Mir hilft folgender Leitspruch: Mach’s einfach – im doppelten Sinne. Hauptsache anfangen und aktiv werden. Ich empfehle, mit dem anzufangen, was als größter Ballast empfunden wird, denn das wird wahrscheinlich die größte Entlastung bringen. Es ist hilfreich, schriftlich festzuhalten, was alles zu tun ist, um sich von einem bestimmten Ballast zu lösen. Eine komplex erscheinende Aufgabe wird so in Häppchen aufgeteilt. Wer sich an seinen größten Ballast noch nicht herantraut, kann sich erst mal etwas Leichterem zuwenden.
Egal ob es eine Jacke, ein Armband oder ein Möbelstück ist: Sich etwas zu gönnen oder sich mit einem Kauf zu belohnen, bedeutet für viele von uns ein Hochgefühl. Dabei sollten wir aber darauf achten, dass wir den neuen Gegenstand wirklich wertschätzen und uns ehrlich an ihm erfreuen – sonst häufen wir schnell zu viele Dinge an, die uns gar nichts bedeuten. Ein Tipp von Christof Herrmann: Vor einem Kauf ausrechnen, wie lange man für den Betrag arbeiten muss. So bekommen viele Summen noch einmal einen ganz anderen Wert – nämlich Lebenszeit. Um Lebenszeit mehr wertzuschätzen, kann es helfen, jeden Tag zehn Minuten für sich selbst in den Alltag einzubauen: Sport, Yoga, lesen, spazieren gehen, ein Telefonat mit der Freundin – was auch immer uns selbst guttut. Dieses Zeitfenster genauso in den Terminkalender eintragen wie auch den Arzttermin oder das Hobby des Kindes. Übrigens hilft es in besonders hektischen Zeiten, immer wieder zwischendurch ein paar Mal bewusst zu atmen und zum Beispiel den Raum um sich herum wahrzunehmen.
Je weniger wir von etwas haben, desto eher erkennen wir seinen Wert.
Je mehr freie Fläche es gibt und je mehr feste Plätze zugewiesen werden, desto schneller sieht es wieder ordentlich aus.
Ich lasse los, was mich belastet, und behalte, was mich glücklich macht – egal ob es 43 Bücher oder 17 Paar Schuhe sind.
Minimalismus bedeutet nicht, jeden Konsum zu verteufeln.
Minimalismus heißt Bewusstheit.
Entscheidend ist eine klare Absicht: Was will ich ausmisten/ ändern/loslassen und warum?
Die Dokus "Minimalism" und "Minimalismus. Weniger ist jetzt (Less is Now)" der US-amerikanischen Minimalismus-Verfehter Joshua Fields Millburn udn Ryan Nicodemus alias "The Minimalists" zeigen ungekünstelt und überzeugend, wie jeder sich dem Thema Minimalismus nähern kann – und was wir gewinnen, wenn wir uns darauf einlassen. Zu sehen bei Netflix.
Erfolgreich ausgemistet! Und nun? Spenden, verkaufen, verschenken, zweckentfremden? Wegwerfen sollte im Sinne der Nachhaltigkeit die letzte Option sein. Wichtig ist eine korrekte Mülltrennung, sodass der Großteil dem Recyclingkreislauf zugeführt werden kann und möglichst wenig in der Restmülltonne landet. Wenn wir etwas spenden oder verschenken, sollten wir durchaus ehrlich zu uns sein, denn gut gemeint ist nicht gleich gut gemacht. Braucht der Bücherschrank in der Stadt wirklich noch fünf Sammelbände von einem veralteten Lexikon? Vermutlich nicht. Angemessene Wertschätzung ist das Gebot der Stunde: Lieber drei vergilbte Kochbücher aus den 1980er-Jahren zum Papiercontainer bringen und dafür einen gern gelesenen aktuellen Roman in den Bücherschrank stellen – vielleicht sogar mit einer netten Botschaft für den neuen Besitzer. Auch gut erhaltene Kleidung kann leicht ein neues Zuhause finden, wenn wir sie im Second-Hand-Laden abgeben oder für Bedürftige spenden. Fleckiges und Löchriges hingegen eignet sich zum kreativen Upcycling, etwa um Puppenkleider, Decken oder Taschen zu nähen. Mit Kleidung, Bettlaken, Schuhen und weiteren Sachspenden lassen sich auch Tierheime, Obdachlosenunterkünfte oder Ausgabestellen für Bedürftige in der Umgebung unterstützen. Am besten vorher anfragen, was gerade gebraucht wird.
Bildnachweis: Unsplash: Samantha Gades,Rawpixel,Christof Herrmann,Minimalists